1805: Joseph-Marie Jacquard stellt in Lyon einen lochkartengesteuerten Webstuhl vor

Mit dem Jacquardwebstuhl konnten die Kettfäden individuell gehoben und gesenkt werden, wodurch komplizierte Muster möglich wurden. Man benutzte Lochkarten oder Lochbänder 1, siehe Bild @fig:1805-1. Diese wurden vom »Kartenschläger« angefertigt.

Jacquardwebstuhl um 1810{#fig:1805-1 height=9cm}

1805: Oliver Evans veröffentlicht »The Abortion of the Young Steam Engineer’s Guide«

Oliver Evans (1755-1819) ist der erste Dampfmaschinen-Pionier Amerika’s. Etliche Legenden ranken sich um sein Leben und sein Schaffen - Legenden, die es sogar noch in der Neuzeit bis in das Capitol der USA geschafft haben.

Evans hatte ab 1785 zusammen mit Familienmitgliedern eine Kornmühle betrieben und dort über mehrere Jahre Vorrichtungen entwickelt, mit denen er den Betrieb automatisierte 2. Nach Patenten einzelner Bundesstaaten erhielt er 1790 das 3. US-Patent überhaupt 3. 1795 verfasste er dann ein Buch, in dem er seine Erfindungen beschrieb: »The young millwright’s and miller’s guide«, also etwa »Der Führer für den jungen Mühlenbauer und Müller«. Dieses Buch erlebte 15 Auflagen, die letzte 1860 4. Neben praktischen Hinweisen zu den Vorrichtungen enthält das Buch auch ausführliche theoretische Betrachtungen, ferner einige Kapitel, die den normalen Mühlenbauer wohl eher nicht interessiert haben dürften: Evans präsentierte eine Zentralheizung mit heißer Luft als Wärmeträger, er schrieb über Möglichkeiten, Schiffe unsinkbar zu machen und stellte Regeln auf, wie Früchte und Liköre haltbar zu machen seien 5.

Evans forderte 40 $ Lizenzgebühr für jedes Paar Mühlsteine, wo seine Ideen zur »Automatic Flour Mill« genutzt wurden. Zusammen mit Einkünften aus anderen Aktivitäten scheint das zumindest zeitweilig für den Lebensunterhalt gereicht zu haben. Ab 1803 befasste er sich dann mit dem Thema Dampfmaschine. Mit einem ersten Prototypen hat er nach eigenen Angaben eine Gipsmühle betrieben, später auch eine Steinsäge 6. Diese Maschine unterschied sich dramatisch von den ab 1802 in Philadelphia (dem damaligen Wohnort Evans’) im ersten Wasserwerk Amerikas eingesetzten Watt’schen Maschinen. Waren diese Niederdruckmaschinen mit Kondensation, also von beachtlichen Ausmaßen, so hatte seine neue Maschine einen Zylinderdurchmasser von 6” und einen Hub von 18” (also ca. 152 mm / 457 mm) und nutzte keinen Kondensator. Ganz analog zu Richard Trevithick [siehe 1797: Richard Trevithick baut ein Modell einer ganz neuen Dampfmaschine] setzte Evans auf »strong steam«. Man darf wohl davon ausgehen, dass Evans nichts über die ersten Versuche Trevithick’s wußte, da dessen Arbeiten noch keinerlei Echo in Zeitungen oder Büchern gefunden hatten. Ich vermute, dass Evans die Vorzüge höheren Dampfdrucks selbst erkannt hat.

Evans erhielt für diese Maschine ein Patent und teilte dann in einem Zeitungsinserat am 5.3.1804 mit, dass

a new Era in the History of the Steam Engine

eine neue Arä in der Geschichte der Dampfmaschine

angebrochen sei 7. Bei Ferguson findet sich auch ein Faksimile einer Zeichnung dieser Maschine. Man erkennt einen Doppelkessel, also zwei Kesselrohre mit geringem Durchmesser, einen doppeltwirkenden Zylinder mit Dreiwegeventilen, Geradführungen der Kolbenstange in einer Gleitbahn sowie Kraftübertragung auf das Schwungrad mittels einer Kurbel. Die Frage, wie genau die Ventile gesteuert wurden, kann ich aus dieser Zeichnung heraus nicht beantworten. Erneut beeindruckt mich die Parallele zu Trevithick. Dieser hatte vermutlich vor 1803 eine solche Geradführung benutzt, [siehe 1803: Fürst Esterházy kauft einen Trevithick-Puffer]. Im Falle Evans’ kann man die praktischen Schwierigkeiten, denen sich seine Leute gegenüber sahen, wohl kaum überschätzen. Bei Trevithick lagen die Dinge durchaus anders, schließlich wurden seit 1712 Newcomen- und seit 1776 Watt-Maschinen gefertigt. Dadurch hatten sich die englische Gießereitechnik und der Maschinenbau schon weiter entwickelt als in den noch agrarisch geprägten USA.

Im Jahre 1805 baute Oliver Evans dann einen Bagger 8. Im Auftrag des »Board of Health« Philadelphia’s sollten damit Hafenbecken ausgebaggert werden. Der eigentliche Bagger bestand wohl aus einer Eimerkette, der Antrieb war eine Maschine nach Evans’ Bauart und das ganze wurde wohl auf einen Prahm gesetzt. Leider muß man festhalten, dass bzgl. dieses Baggers mit dem klangvollen Namen »Orukter Amphibolos«, d.h. etwa »amphibischer Gräber«, kaum gesicherte Informationen vorliegen. Es gibt keinerlei neutrale Zeitungsmeldungen dazu sondern nur Evans’ eigene Aussagen. Evans’ Biographen, sowohl Greville und Dorothy Bathe 9 als auch der von mir schon mehrfach genutzte Eugene S. Ferguson, halten sich mit der Bewertung der Quellen eigentümlich zurück. Das mag damit zusammenhängen, dass Evans’ amphibischer Bagger wohl zu einem amerikanischen Gründungsmythos geworden ist. Seit den 1970er Jahren ist im US Capitol ein Deckengemälde zu sehen, auf dem der »Orukter« gerade in den Delaware fährt. Die Bildunterschrift lautet: »Steam Powered Amphibious Boat, 1804«, also »Dampfgetriebenes amphibisches Boot, 1804« 10. Zu den wenigen, die dieser Legende laut widersprechen, gehört der amerikanische Historiker Stephen Lubar 11. Folgt man seiner Darstellung, so hat Evans zwar etwas gebaut, aber es ist sehr zweifelhaft, ob der »Orukter« überhaupt zum Einsatz gekommen ist. Lubar zitiert aus einem Buch von 1840:

Oliver Evans had at one time a great steam engine standing for six months at the corner of Ninth and High streets, where it had broken, and would go no further! It had been made to go under water , as it was said, and was to dig out river beds, and docks and shoals. It had started from his premises at Vine street, and had gone that far on the streets. To what will steam not eventually contribute !

Oliver Evans hatte mal eine große Dampfmaschine sechs Monate lang an der Ecke der Ninth und High streets stehen. Sie war dort kaputt gegangen und nicht weiter zu bewegen. Sie sollte unter Wasser gehen, so sagte man, und das Flußbett, Hafenbecken und Untiefen ausbaggern. Sie war aus seinem Haus in der Vine street dorthin gekommen. Zu was der Dampf letztendlich beiträgt !

Abschliessend sei Lubar zitiert:

The Board of Health finally gave up on the Orukter in late 1808. It paid Evans what he claimed he was owed, and in June 1809 it sold the machine for parts. It got $31.10 back for its $4,000 investment. (We can add to the first abandoned car, the first junked car.) That was the end of the Orukter Amphibolos— as a machine. As a myth it lived much longer.

Das Gesundheitsamt gab den Orukter Ende 1808 auf. Es zahlte Evans den geforderten Betrag und verkaufte die Maschine als Schrott im Juni 1809. Von $ 4.000 erlöste es so $ 31,10. (Wir können also zum ersten liegen gebliebenen Auto das erste verschrottete Auto hinzufügen). Das war das Ende des Orukter Amphibolos - als Maschine. Als Mythos lebte er viel länger.

Nur wenige Monate später veröffentlichte Evans im Jahr 1805 ein Buch mit dem absonderlichen Titel »The Abortion of the Young Steam Engineer’s Guide«, also etwa »Der Abbruch des Führers für den jungen Dampfmaschinen-Ingenieur« 12. Die genauen Gründe für den Zusatz »The Abortion of« bleiben m.E. unklar. Das Buch ist in meinen Augen ein eher wirrer Text. Es enthält neben dem eigentlichen Thema Skizzen und Beschreibungen eines Brechwerkes, eines Strohschneiders, einer Art Pflug und ausführliche Kopien von Auseinandersetzungen, die zumindest teilweise via Zeitung geführt wurden.

Aber das Buch enthält auch eine Zeichnung, siehe Bild @fig:1805-2 13, die seine ganz eigene und neue Konstruktion einer Hochdruckmaschine zeigt. Anders als bei dem Prototypen ist die Kesselkonstruktion nun klar erkennbar. Evans schachtelt zwei Rohre ineinander, Feuerbüchse und Außenmantel. Das Speisewasser wird durch die Rauchgase vorgewärmt. Die Maschine ist doppeltwirkend, die Ein- und Auslaßventile werden über Nocken von einer Welle angesteuert, die über große Zahnräder mit der Abtriebswelle gekoppelt ist. Führung der Kolbenstange, Ausbildung der Kurbelstange, Balancier - all dies bleibt unklar. Die Maschine treibt über geradverzahnte Kegelräder einen Mahlstein an. Es ist sofort ersichtlich, dass der Hauptzweck dieser Maschine nicht das Pumpen ist, sondern der Antrieb von Aggregaten.

Die Zeichnung selbst ist »eigenwillig« und wirft viele Fragen auf. Ich kann mir gut vorstellen, dass Evans Details seiner Konstruktion in der Zeichnung verschleiern wollte - klagt er doch im Vorwort über nicht gewährten Patentschutz.

Evan's Hochdruck-Maschine{#fig:1805-2 width=14cm}

Ich habe ein Modell dieser Maschine gebaut 14.

Mit einer weiteren Zeichnung möchte ich das Kapitel zu Oliver Evans beschliessen, siehe Bild @fig:1805-3 15.

Die erste in den Vereinigten Staaten konstruierte und gebaute Dampfmaschine{#fig:1805-3 width=14cm}

Dieses Bild ist erst 1893 entstanden. Es basiert allerdings auf einer zeitgenössischen Buchillustration, die 1813 veröffentlicht wurde 16. Die Zeichnung von 1813 ist überschrieben »The Columbian Steam Engine«. Dieser Titel erscheint in der kolorierten Nachzeichnung von 1893 nicht mehr, dort heißt es jetzt »The first Steam Engine Designed and Built in the United States«. Neu sind ausserdem die kleine Zeichnung des »Orukters« sowie die gesamte Bildlegende.

Es gibt eine Reihe von Gemeinsamkeiten zu Evans’ Zeichnung von 1805, aber auch deutliche Unterschiede. Das lange Kesselrohr ist zwar geblieben, aber die dargestellten Flammen bestreichen nun die Aussenseite. Die Rauchgase ziehen dann durch ein Rauchrohr ab. Die Speisewasservorwärmung ist (für mich) nicht mehr klar zu erkennen. Nun aber ist die Geradführung der Kolbenstange, die Ankopplung der Hilfspumpen sowie die Kraftübertragung auf die Abtriebswelle präzise dargestellt: Wir haben es mit dem später sog. »Evan’schen Lenker« zu tun, im Englischen »Evan’s Linkage«, oft auch »Grasshopper Beam Engine«. »Halbbalancier« ist ein weiterer synonymer Begriff. Die Steuerung dieser Maschine ist gänzlich anders als in Bild @fig:1805-1 - aber nicht klar erkennbar, vielleicht ein Drehschieber, in keinem Fall aber vier dedizierte Ventile.

Diese neue Steuerung ging auf Luther Stephens zurück. Dieser betrieb eine Mühle und erhielt 1809 eine Evans-Maschine mit der 1805 beschriebenen Steuerung. Diese ersetzte Stephens dann durch seine eigene. Als Evans davon erfuhr, trat er laut Ferguson 1/4 seines Patentes an Stephens ab 17.

Die »Columbian Engine« ist dann mehrfach gebaut worden, zum einen in den »Mars Works« in Philadelphia durch Evans direkt zum anderen durch die Pittsburgh Steam Engine Company, die durch einen Sohn Evans’ und den erwähnten Luther Stephens geleitet wurde. Für die »Mars Works« ist bekannt, dass alles gefertigt wurde, was sich giessen ließ, gleich ob Dampfmaschine oder nicht - aber das war auch bei den »Startups« in Deutschland nicht anders, man denke an Dinnendahl, Jacobi, Harkort oder Egells.

Ganz analog zu Richard Trevithick mußte auch Oliver Evans erfahren, dass seine Hochdruckmaschinen eine tödliche Gefahr sein konnten: 1817 explodierte der Kessel einer Schiffsmaschine, die im Jahr zuvor von der Pittsburgh Steam Engine Company geliefert worden war. Es gab 11 Tote. In einer Art Rechtfertigung schrieb Evans, dass bei seinen Kesseln in »999 von 1000 Fällen« eine Schwachstelle nachgeben und den Druck abbauen würde, bevor es zu einer Explosion kommen könne 18.

Für den Einfluß Evans’ auf die weitere Entwicklung des amerikanischen Dampfmaschinenbaus gibt es m.E. keine verläßlichen Angaben. Die meisten Autoren deuten an, dass die Maschinen der Dampfschiffe des Mississippi auf Evans’ zurückgehen, allerdings ohne das genauer zu belegen.

Stand 15.10.2018


  1. Day + McNeil, 1996, S. 375 f. 

  2. Ferguson, 1980, S. 26 

  3. Ferguson, a.a.O. S. 28 f. 

  4. Ferguson, a.a.O. S. 32 

  5. Ferguson, a.a.O. S. 31 

  6. Ferguson, a.a.O. S. 36 

  7. Ferguson, a.a.O. S. 37 

  8. Ferguson, a.a.O. S. 39 

  9. Bathe, 1935 

  10. Wikimedia Allyn_Cox_Oliver_Evans.png 

  11. Lubar war Historiker und u.a. leitender Mitarbeiter am »Smithsonian’s National Museum of American History«. Seine Ansichten zum Orukter hat er 2006 publiziert Lubar, 2006 

  12. Evans, 1805 

  13. Das gezeigte Bild stammt von Wikimedia Commons. Dort wird als Quelle »The Abortion …« angegeben. Ich bezweifle das. Ich habe diese Abbildung in der 1825 erschienenen französischen Fassung von Evans’ Buch gefunden: Manuel de l’ingénieur mécanicien constructeur de machines a vapeur. Archive.org 

  14. Bala-Gamma auf http://balancier.eu Drop Valve Engine Oliver Evans 1805 

  15. Die Zeichnung von 1893 wird in der »Library of Congress« aufbewahrt. Dort heißt es: »The first steam engine designed and built in the United States, by Oliver Evans, of Philadelphia, Pa., 1801 / Drawing by Thos. Arnold McKibbin.« 

  16. Die Tafel ist in einem Werk enthalten, welches den Leser in besonderer Art fordert. Über mehr als 200 Seiten werden diverse Aspekte der Dampfmaschine erörtert, darunter eben auch ein Text von Oliver Evans, dann geht es mit einem Sammelsurium von Texten über ca. 300 Seiten weiter. Darunter finden sich »Anweisungen für Eltern«, eine Liste der Theater in London und ein Text »On the uses of a dead horse«, also die »Verwendung eines toten Pferdes«. Emporium, 1813, nach S. 380 

  17. Ferguson, a.a.O. S. 46 

  18. Ferguson, a.a.O. S. 51